Wissenschaftsfreiheit ist unter Beschuss, sowohl in autoritären Demokratien als auch in liberalen westlichen Demokratien. Dominante Diskurse über Wissenschaftsfreiheit und freie Meinungsäußerung im globalen Norden, in letzter Zeit vor allem in Frankreich und Deutschland, konzentrieren sich auf eine angebliche Bedrohung der wissenschaftlichen Freiheit durch „politische Korrektheit“ und „Cancel Culture“, die sich bei näherer Betrachtung oft als genau das Gegenteil entpuppen, nämlich als Verteidigung von Pluralität und kritischen Stimmen.
Die Wissenschaftsfreiheit wird angegriffen, sowohl in autoritären Demokratien wie Ungarn und der Türkei als auch in liberalen westlichen Demokratien wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. So werden zum Beispiel die Gender Studies von rechtsgerichteten Regierungen in Osteuropa ins Visier genommen, und in Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron postkoloniale und kritische Theorien als "Islamo-Gauchisme" angegriffen und sie als Gefahr für die Republik dargestellt. Die dominanten Diskurse über Wissenschaftsfreiheit und freie Meinungsäußerung im globalen Norden, in letzter Zeit vor allem in Frankreich und Deutschland, konzentrieren sich jedoch auf eine angebliche Bedrohung der wissenschaftlichen Freiheit durch "politische Korrektheit/Political Correctness " und "Cancel Culture", die sich bei näherer Betrachtung oft als genau das Gegenteil entpuppen, nämlich als Verteidigung von Pluralität und kritischen Stimmen.
1. Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit innerhalb und außerhalb der Universitäten
Der westliche Diskurs über Wissenschaftsfreiheit konzentriert sich auf wahrgenommene interne Bedrohungen dieser Freiheit, also solche, die von der Wissenschaft selbst ausgehen. "Cancel Culture", "Political Correctness" und "Wokeness" sind Begriffe, die auf eine wahrgenommene Verengung der diskursiven Regeln innerhalb der akademischen Welt durch linksgerichtete "politisierte" oder "moralisierte" Wissenschaft und öffentliche Debatte anspielen. Es ist wichtig zu beachten, dass auch Proteste, die auf den ersten Blick außerhalb des akademischen Diskurses zu liegen scheinen, wie z.B. der studentische Boykott von Veranstaltungen mit rechten oder rassistischen Redner_innen, sich an akademischen Theorien orientieren und somit nicht völlig außerhalb der Wissenschaft liegen, sondern Teil der kritischen akademischen Kultur selbst sind. Was in diesem westlichen Diskurs als Bedrohung der wissenschaftlichen Freiheit wahrgenommen wird, ist also der Lern- und Forschungsfortschritt, der innerhalb der Wissenschaft hinsichtlich struktureller Diskriminierungen wie Rassismus, Sexismus, Trans- und Homofeindlichkeit stattfindet.
Externe Einschränkungen der wissenschaftlichen Freiheit kommen einerseits von nicht-akademischem Protest, wie in Post-Wahrheits-Diskursen zum Klimawandel- oder Covid-19-Leugnung, und anderseits von konservativen und rechten Regierungen. In westlichen Debatten werden Einschränkungen der wissenschaftlichen Freiheit durch den Staat oft ge-"othered" oder externalisiert, d.h. sie werden ausschließlich fernen autoritären Regimen zugeschrieben. Die staatliche Einmischung in Ungarn (hier und hier) und der Türkei wird zu Recht als Skandal angesehen. Der kurzsichtige westliche Diskurs über "Cancel Culture", welcher kritische akademische Theorien als Hauptbedrohung der wissenschaftlichen Freiheit darstellt, verkennt jedoch, dass auch im Westen gerade eine neue Ära gefährlicher staatlicher Eingriffe begonnen hat. Beunruhigende Beispiele für solche staatlichen Eingriffe in akademische Diskurse sind die Verwendung des rechtsgerichteten Begriffs "Islamo-gauchisme" [konservative Position] durch die französische Regierung, um in den akademischen Diskurs einzugreifen, sowie die Versuche, antirassistisches und postkoloniales Denken von Politiker_innen auf allen Ebenen in Großbritannien und den USA zum Schweigen zu bringen. In den USA haben sich solche staatlichen Angriffe auf die wissenschaftliche Freiheit in den letzten Jahren durch republikanische Kampagnen gegen staatliche Universitäten, die von öffentlichen Geldern abhängig sind, verstärkt [hier und hier]. Ein weiteres Beispiel ist die Anti-BDS-Resolution des deutschen Bundestages und der anschließende Beschluss der deutschen Hochschulrektorenkonferenz, diese an deutschen Universitäten zu verankern. Es sind diese staatlichen Eingriffe und nicht der sich entwickelnde akademische Diskussions- und Lernprozess in Bezug auf strukturelle Diskriminierung, wie z.B. Rassismus, welche die eigentliche Bedrohung der wissenschaftlichen Freiheit darstellen.
2. Wissenschaftliche Freiheit ist politisch
Wir müssen also für die wissenschaftliche Freiheit als eine Sphäre der offenen Debatte kämpfen, die nicht politisch vorbestimmt ist. Doch ist es wirklich möglich, mit einer solchen politisch neutralen Darstellung der wissenschaftlichen Freiheit zu arbeiten? Wie die einseitigen Angriffe auf kritische Theorien unter dem Deckmantel der Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit zeigen, sind Fragen der wissenschaftlichen Freiheit politisch, und sie werden zunehmend politisiert. Der Erfolg von Rechtspopulist_innen auf der ganzen Welt hat zu offenen politischen Kämpfen um Wahrheit und Wissensproduktion geführt. Während die intrinsische Verbindung zwischen Wissen und politischer Macht von politischen Theoretiker_innen gut dokumentiert ist, hat sich das Ausmaß und die Direktheit, in der Wissen und Wahrheit und damit auch die Wissenschaft heute Teil politischer Auseinandersetzungen sind, verschärft. Daher können wir nicht an einem rein formalen, neutralen oder objektiven Verständnis von wissenschaftlicher Freiheit festhalten. Die Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit ohne Kontextualisierung und Lokalisierung solcher Verteidigungen in der breiteren politischen Landschaft der Wissenskämpfe ist leer und riskiert unbeabsichtigte politische Nebeneffekte. Das heißt, wenn man sich in das Konzert der Besorgnis über restriktive "politische Korrektheit" im Namen der Meinungsfreiheit einreiht, wie der Harper's Letter über Gerechtigkeit und offene Debatte, riskiert man, rechte Narrative zu unterstützen. Wenn akademische Theorien selbst zum Gegenstand einer von rechten Kräften geförderten öffentlichen Debatte werden, gibt es keine unschuldige Verteidigung der wissenschaftlichen Freiheit. Eine Position zur wissenschaftlichen Freiheit ist eine Position innerhalb dieser politischen Debatten. Schlimmer noch: Formalisierung und Objektivierung werden im rechten und konservativen Diskurs über "Cancel Culture" oft absichtlich eingesetzt, um die eigene partikulare politische Position fälschlicherweise zu universalisieren und um unberechtigte Privilegien gegen Kritik zu verteidigen, die im Namen von sozialer Gerechtigkeit geübt wird.
3. Um die Einschränkungen der wissenschaftlichen Freiheit zu korrigieren braucht es eine Veränderung von Machtsystemen
Wenn Wissenschaftsfreiheit also ein politisches Thema ist, führt dies zu einer Reduzierung der Wissenschaft auf politische Macht? Glücklicherweise nicht, denn es gibt plausible akademische Theorien, zur normativen Interpretation dieser Situation. Michel Foucault, feministische und postkoloniale Standpunkttheorien sowie radikaldemokratische Theorien zeigen auf, dass der akademische Diskurs nicht politisch neutral sein kann, sondern in seiner Gesamtheit ein Spiegelbild der aktuellen gesellschaftlichen Machtstrukturen und politischen Hegemonien ist. Das ist ein ernsthaftes Problem für die wissenschaftliche Freiheit. Der Zugang zur Wissenschaft, die Themen des Mainstreams und die Finanzierungsstrukturen privilegieren hegemoniale Perspektiven und Forschende aus bestimmten Milieus. Die akademische Welt im Westen ist immer noch weiß, cis-männlich, heterosexuell und der oberen Mittelschicht zugehörig. Vielfältige und pluralistische Perspektiven, insbesondere solche, welche die grundlegenden Machtasymmetrien und Strukturen der Unterdrückung und Ausbeutung erforschen, auf denen unsere Gesellschaften aufgebaut sind, werden effektiv von vornherein "gecancelt". Diese Einschränkungen der wissenschaftlichen Freiheit zu korrigieren, um einen pluralistischeren und inklusiveren Diskurs zu fördern, erfordert eine Veränderung dieser Privilegierungssysteme. Es bedeutet, dass die derzeit Privilegierten diskursive Macht, Sendezeit oder Finanzierung verlieren. Die Pluralisierung der Wissenschaft macht es notwendig, die Ressourcen so umzuverteilen, dass die Freiheit der derzeit Privilegierten reduziert wird, um Freiheit für alle zu schaffen. Dies kann durch Techniken geschehen, die als "politische Korrektheit" kritisiert werden: die Dekolonisierung von Lehrplänen, die systematische Privilegierung von Minderheitenstimmen durch inklusive Konferenzen oder die Umsetzung einer inklusiven Sprach- und Beschäftigungspolitik an Universitäten.
Dies schränkt jedoch nicht die wissenschaftliche Freiheit oder die Freiheit der Meinungsäußerung ein, wie es die externen und staatlich gesteuerten Interventionen tun, die ich oben beschrieben habe. Zu denken, dass Veränderungen nicht zu einer Umverteilung von Macht führen, ist eine falsche Auffassung von Freiheit, und es ist eine ebenso falsche Auffassung von Wissenschaft, die es erlaubt, den Fortschritt abzuwehren, um individuelle Privilegien zu schützen. Solche konservativen Verteidigungen der wissenschaftlichen Freiheit führen zur Kontinuität der Blindheit des akademischen Mainstreams gegenüber sozialen und politischen Realitäten. Deshalb geht es bei der Infragestellung gesellschaftlicher Machtstrukturen innerhalb der Wissenschaft nicht darum, die Wissenschaft auf Machtkämpfe zu reduzieren, sondern im Gegenteil, auf das Ideal eines freien akademischen Diskurses hinzuarbeiten.
4. Aber... Vorsicht vor der Verwaltung und dem marktgesteuerten Hochschulmanagement
Unabhängig davon: Ist es nicht trotzdem ein Problem, wenn Moralisierung die wissenschaftliche Freiheit einschränkt? Auch wenn die eigentliche Bedrohung und die "wirkliche Cancel Culture" die oben beschriebene staatliche Einmischung ist, müssen wir die Beispiele der konservativen "Cancel Culture"-Kritik ernst nehmen. Ein vergleichender Blick hilft. Die Beispiele stammen meist von privaten Universitäten in den USA, wo Studierende enorme Studiengebühren zahlen müssen und die Rolle von Konsumierenden und Kund*innen haben. Hier tut die aufgeblähte Verwaltung alles, um Skandale unter dem Radar zu halten oder sie nach den vermeintlichen Wünschen der Kund_innen zu lösen. Darüber hinaus macht das Fehlen effektiver Arbeitsrechte es leicht, Personen zu entlassen. In dieser Situation ist die Position von Lehrkräften, die kontroverses Material lehren, schwach und Kolleg_innen aus den USA berichten von einem erhöhten Bewusstsein in Bezug auf "political correctness". Während dieses Bewusstsein im Allgemeinen eine gute Sache ist, sind eine potenzielle Selbstzensur oder die Gefahr unangemessener Sanktionen dies nicht, da sie die Wissenschaftsfreiheit einschränken können. Daraus lassen sich einige institutionelle Schlussfolgerungen ableiten: Die Umverteilung von Privilegien innerhalb der Wissenschaft zur Pluralisierung des akademischen Diskurses sollte nicht in den Händen der Verwaltung liegen und sich nicht an Marktlogiken orientieren, wie es bei US-amerikanischen privaten Hochschulen der Fall ist. Prekäre akademische Beschäftigung, insbesondere von jüngeren Wissenschaftler_innen, ist kein Spezifikum der USA, sondern eine allgemeine Bedrohung der wissenschaftlichen Freiheit. In Deutschland beispielsweise arbeiten 90 Prozent des akademischen Personals mit kurzen befristeten Verträgen ohne jegliche langfristige Arbeitsplatzsicherheit, während nur Seniorprofessor_innen fest angestellt sind. Dieses neoliberale Management schränkt die Möglichkeiten jüngerer Wissenschaftler_innen, kritische Positionen zu vertreten und etablierte Paradigmen in Frage zu stellen, effektiv ein, minimiert Innovationen und stabilisiert Strukturen ungerechter Privilegien. Daher sind neben der Abwehr der konservativen Angriffe auf die wissenschaftliche Freiheit durch den Staat bessere und sicherere Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler_innen der Schlüssel zur Pluralisierung des Wissens und zur Verwirklichung der akademischen Freiheit.
Dieser Kommentar wurde zuerst veröffentlicht bei Verfassungsblog und European Feminist Platform.
Editor’s note: Einige Korrekturen wurden nach Erstveröffentlichung getätigt.